Die Ostwand der Donnerwand dürfte schon vielen Kletterern ins Auge gestochen sein, doch die Allerwenigsten haben sich an ihr versucht. Denn einerseits ist sie mit ihren 250 m Wandhöhe eine eindrucksvolle Erscheinung, andererseits gibt es nur spärliche Informationen über vorhandene Kletterrouten und ihre Besteigungsgeschichte. Dokumentierte Routen gibt es lediglich zwei, beide sind einem Mann zu verdanken: Albin Roessel, ein ehemaliger Wiener Bankbeamter, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit in den unterschiedlichsten Gebirgsgruppen mehrere Erstbegehungen verbuchen konnte, gerne auch alleine.
Bei der hier vorgestellten Route durch die Ostwand hatte Roessel am 26.9.1920 mit Roman Szalay einen ausgezeichneten Bergsteiger an seiner Seite, der nicht nur am Großglockner mit Neutouren auf sich aufmerksam machte, sondern beispielsweise auch in der Triglav Nordwand (mit Karl Prusik) einen neuen schwierigen Anstieg meisterte.
Roessel über die Ostwand-Route im "Gebirgsfreund August 1925":
"Wenn man die Donnerwand (1802m (Anm: heute 1799m)) über ihren Ostabsturz erklimmen will, ist es nicht nötig ins Kleinbodental abzusteigen, man quert vielmehr vom Grasleitensattel gleich gegen die Felsen. Man kommt zu einer Höhle, die sich dort befindet, wo der unter dem Gipfel ziemlich waagrechte Rand der Felsen gegen den Südgrat zurückweicht. Von der Höhle steigt man nach rechts auf einen Zerbenabsatz und begibt sich längs desselben ganz nach Norden und in gleicher Richtung über gutgestuften Fels auf einen steilen Grat. Über ihn erreicht man eine unter seinem Ende eingebettete Schuttmulde. Nun folgt man drei stark ansteigenden Bändern, und zwar nach links einem plattigen, nach rechts einem kurzen und wieder nach links einem mit einer Steilplatte endigendem. Hierauf klettert man gerade hinan zum Gipfel (2 Stunden). Man befindet sich auf einem allseits steil abfallendem Kegel, einem durchaus selbständigen Berg, dessen Rundsicht nur durch den Windberg eingeschränkt ist. Der Anstieg über die Ostwand ist schwierig zu nennen und verlangt bergsteigerische Erfahrung. Die vom Gipfel nach Südost abstürzende Kaminreihe, die vom Grasleitensattel sichtbar ist, ist unter keinen besonderen Schwierigkeiten zu durchsteigen, unerkletterbare Stellen umgeht man knapp rechts davon. "
Roessel beschreibt am Schluss auch kurz seine zweite Erstbegehung, die ihm alleine am 4. Juli 1920 in einer Stunde gelang. Durch die Erwähnung "unter keinen besonderen Schwierigkeiten zu durchsteigen" sollte dieser Anstieg jedoch nicht unterschätzt werden.